Wer nach Ausbruch des Krieges in der Ukraine Aktien größerer russischer Emittenten über Hinterlegungsscheine wie ADR, GDR oder EDR in seinem Depot hatte, konnte diese in den letzten Monaten weder verkaufen noch in Aktien tauschen. Nun soll dies möglich sein. Der ES geht der Sache auf den Grund.
Die einst als lukrativ geltenden russischen Wertpapiere haben Anlegern in den letzten Monaten wenig Freude bereitet. Denn zu den hohen Kursverlusten kamen auch noch Handelsverbote durch die Sanktionen hinzu. Russische Aktien werden international nicht direkt, sondern über sog. Depository Receipts (DR) gehandelt. Das sind als Wertpapier verbriefte Hinterlegungsscheine, die als Platzhalter für russische Aktien an internationalen Börsen emittieren. Sie konnten seit 1996 genau wie europäische oder amerikanische Aktien gehandelt werden – je nach Börsenplatz werden diese als ADRs (American Depository Receipts), GDRs (Global Depository Receipts) oder auch als EDRs (European Depository Receipts) bezeichnet. So konnten Anleger problemlos in Firmen wie Gazprom, Lukoil, Sberbank, VTB Bank oder Tatneft investieren, auch wenn sie über kein Depot bei einer russischen Bank verfügten. Doch spätestens seit April war damit Schluss.
Am 16. April 2022 hat die russische Duma per Gesetz verboten, russische Aktien
außerhalb Russlands über Depositary Receipts (DRs) zu handeln.
Die USA und Europa sanktionierten ihrerseits den Handel mit russischen Wert-
papieren.
Die New York Mellon Bank hatte daraufhin ihre DR-Programme am 27. April 2022 beendet. Zunächst wurden die Wertpapiere deshalb vom Handel ausgesetzt und für kraftlos erklärt. Gazprom hatte dann seinerseits wenige Tage später den Vertrag mit der BNY Mellon zur Ausgabe von Gazprom-ADRs gekündigt, weshalb diese nun zum 3. August 2022 ausliefen. Die ADR-Inhaber haben aber grundsätzlich Anspruch darauf, dass die entsprechenden russischen Aktien an sie übertragen werden, denn sie verbriefen das Eigentum an diesen Aktien. Doch die Clearstream Banking (die deutsche Hinterlegungsstelle) blockierte diesen Prozess, weil die russische Hinterlegungsstelle National Settlement Depository (NSD) mit Sanktionen belegt ist. Daher war ein Umtausch in Originalaktien bislang nicht möglich.
Mitte Juli gab es dann für große Investoren und Kleinanleger einen Hoffnungsschimmer: Die Depotbanken verschickten Informationsschreiben, wonach plötzlich ein Umtausch der ADRs in Originalaktien möglich wäre. Doch Erläuterungen dazu gab es nicht, Hilfestellungen sowieso nicht. Bei den Depotkunden herrscht Ratlosigkeit, zumal weder Hintergründe noch der Ablauf der Transaktion daraus hervorgehen. Dafür enthalten die Mitteilungen ziemlich viele Hinweise der Banken, um sich selbst nach allen Seiten abzusichern.
Demnach hat der russische Wertpapierzentralverwahrer NSD angekündigt, zunächst bis zum 31. Juli (inzwischen verlängert bis zum 14. August) auf Gebühren beim Umtausch zu verzichten. Durch diesen Verzicht macht er bei der Transaktion keinen Gewinn und kann auch sonst keinen wirtschaftlichen Vorteil daraus ziehen. Und damit verstößt der Umtausch nicht mehr gegen das am 3. Juni 2022 erlassene sechste Sanktionspaket der EU. Auch die russische Regierung hat ihre Restriktionen etwas aufgeweicht.
Ende Juni wurde vom russischen Parlament ein Gesetz verabschiedet, das es bis zum 12. Oktober 2022 ermöglicht, Hinterlegungsscheine auch ohne Unterstützung von europäischen und amerikanischen Kreditinstituten in russische Originalaktien zu tauschen.
Was zunächst nach einem Hoffnungsschimmer aussieht, macht in Wirklichkeit die Lage noch unübersichtlicher und hat vor allem einen gewaltigen Haken bei der Umsetzung. Denn die russischen Originalaktien werden nach dem Tausch nicht mehr zur Depotverwahrung bei deutschen oder ausländischen Depotbanken angenommen. Daher muss der Kunde bei Auftragserteilung in jedem Fall vorher schon ein Depot bei einer russischen Bank oder einem anderen ausländischen Kreditinstitut mit Anschluss an eine russische Lagerstelle eröffnen, z.B. in Armenien. Er muss also bei Auftragserteilung schon die neue Bank und die ausländische Depotverbindung angeben, wohin dann die Aktien eingebucht werden sollen. Ob und wie weit er damit gleichzeitig die EU-Sanktionen umgeht und sich als Privatperson evtl. strafbar macht, dazu wollte oder konnte sich offiziell niemand äußern.
„Zu der Einhaltung von EU-Sanktionen bei der Eröffnung von Konten bei russischen Banken sind wir leider nicht der richtige Ansprechpartner.“
(Tabea Behr, Communication Specialist der Deutschen Börse Group)
Die dwpbank hat zwar eine Liste mit Banken herausgegeben, die als sog. Ziel-Depotbanken in Frage kommen. Das sind die Gazprombank, die Unicredit Moskau, die Armbrok Bank, die BrokerCreditService Ltd. (CYPRUS) und die Central Depositary of Armenia. Gleichzeitig schreibt sie aber auf ES-Nachfrage dazu: „Diese Information stellt keine Empfehlung der dwpbank dar, sich dieser Kreditinstitute als depotführende Stellen für die Verwahrung von russischen Aktien zu bedienen. Die dwpbank steht in keiner Rechtsbeziehung zu diesen Instituten. Ob eine Einbuchung unterliegender russischer Aktien bei diesen Instituten rechtssicher erfolgt, kann aus Sicht der dwpbank nicht beurteilt werden.“ (Martin Michel, Unternehmenskommunikation der dwpbank)
Im Klartext: Der Kunde ist auf sich selbst gestellt und handelt auf eigenes Risiko.
Tauscht er seine Papiere über eine russische Bank um, verlangt diese zu dem Depotauszug als Nachweis über den Besitz dieser Hinterlegungsscheine aber auch eine persönliche Legitimation vor Ort oder von einer für Russland vertrauenswürdigen Person. Bei einer europäischen Bank braucht es für den Umtausch dagegen ein Formular. Pro Depotinhaber und pro Gattung muss das Formular „Depositary Receipt Cancellation – No Change of Beneficial Ownership Attestation“ ausgefüllt und vom Kunden unterschrieben eingereicht werden, das dann an die ausländische Lagerstelle weitgeleitet wird.
Doch wer glaubt, das wars, der irrt. Ein Tausch ist generell nur für in „Wertpapierrechnung“-verwahrten Gattungen möglich. Bei Beständen in „Girosammelverwahrung“ (also bei fast allen) ist eine vorherige Lagerstellenumlegung notwendig. Diese kostet nicht nur Geld, sondern braucht auch ihre Zeit – im besten Fall 2 bis 5 Tage. Und hier schließt sich das nächste Problem an. Obwohl ein Umtausch in Einzelfällen bis zu einem Jahr möglich sein soll (Magnit z.B. bis 26. August und Lukoil sogar bis 30. Dezember 2022), sind die Fristen der Banken extrem eng gesetzt. Damit kann nicht garantiert werden, dass eine Verlagerung der Wertpapiere rechtzeitig möglich ist. Denn laut dwpbank musste eine solche Lagerstellenumlegung bis spätestens 3. August 2022 beauftragt worden sein. Aufträge für den Umtausch inklusive Zusendung des ausgefüllten Formulars und der Angaben zur ausländischen Depotverbindung mussten bis spätestens 8. August 2022 erfasst werden. Warum so enge Fristsetzungen erfolgten, dazu konnte die dwpbank auf ES-Nachfrage „leider keine weitergehende Auskunft geben.“
Den Banken eröffnet dieses Umtauschangebot dagegen zumindest die Möglichkeit, die inzwischen toxisch gewordenen Wertpapiere auf die eine oder andere Weise für die eigene Vermögensverwaltung und aus den Kundendepots loszuwerden. Denn dort sind sie reichlich vertreten. Es besitzen viel mehr Kleinanleger russische Wertpapiere als seinerzeit Wirecard-Aktien, nicht zuletzt auf Empfehlung ihrer Bankberater, die jetzt aber auch keinen Ausweg wissen und oft nicht einmal mehr ans Telefon gehen.
Nehmen die Kunden das Umwandlungsangebot an, müssen die Hinterlegungsscheine raus aus den deutschen Depots und die getauschten russischen Aktien dürfen wegen der Sanktionen nicht wieder rein. Einige Depotbanken haben deshalb für ihre Kunden ein Treuhandkonto bei einer der vorstehend genannten Banken eröffnet. Der Anleger hat zwar dann seine Scheine in Aktien umgetauscht, aber ein Verkauf der Aktien wäre dann auch nur in Russland und Ländern möglich, die keine Sanktionen verhängt haben bzw. diese nicht unterstützen.
„Bisher kennen wir keinen Fall, in dem der Umtausch geglückt ist.“
(Marc Liebscher, Rechtsanwalt und Vorstand der Schutzgemeinschaft der
Kapitalanleger)
Und hier „beißt sich die Katze erneut in den Schwanz“. Denn bei Wertpapieren, die von Einrichtungen und Emittenten ausgegeben wurden, die Sanktionen unterliegen oder bei Gewinnen daraus (evtl. sogar noch in Rubel), sind die Verkaufserlöse zunächst gesperrt. Der Erlös (abzüglich Kosten und Gebühren) könnte den Besitzern dann auf das Treuhand- bzw. Memorandum-Konto gutgeschrieben werden. Ob und wie der Kunde aber jemals an sein Geld kommt – unklar. Denn nicht einmal die deutsche Clearstream Banking hat auf solche Konten Zugriff, wie aus einer Pressemitteilung der Institution vom 1. August hervorgeht. Somit können die Gelder erst dann auf die Konten der Kunden überwiesen werden, wenn sie nicht mehr von Sanktionen belegt sind. Ob überhaupt und ab wann diese Option besteht – ungewiss.
Tauscht der Kunde aber seine Hinterlegungsscheine nicht in die Stammaktie um, droht ihm nach Auslaufen der DR-Programme ein Zwangsverkauf durch die Bank –theoretisch jedenfalls. Denn momentan – und das ist die gute Nachricht – ist dieser wegen der Sanktionen ja auch nicht möglich. Allerdings läuft hier die Zeit gegen den Besitzer der Scheine – das ist die schlechte Nachricht.
Angesichts der unübersichtlichen politischen Lage gibt es derzeit für Besitzer von russischen Hinterlegungsscheinen keinen sicheren Weg, um ihr investiertes Kapital zu retten. Das aktuelle Angebot ähnelt eher dem Russisch Roulette.